Freitag, 7. Juni 2024

Kultur im Vest


Ruhrfestspiele im Spannungsfeld von Vergnügen und Verlust

Festival 2024 endet am Samstag


Applaus nach der Aufführung von "The Pulse" beim diesjährigen Festival
ONsüd-Bild: Nina Wichard

Mit Vorstellungen von Shakespeares „König Lear“ mit Wolfram Koch in der Titelrolle, „Rollercoaster“ des amerikanischen Jonglagekünstlers Wes Peden und dem „Ausklang auf dem Grünen Hügel“ enden am Samstag die Ruhrfestspiele 2024.

Unter dem Motto „Vergnügen und Verlust“ haben die Ruhrfestspiele in den letzten sechs Wochen zu einem internationalen, auch politisch motivierten, genreübergreifenden Theaterfestival für alle Generationen eingeladen. Der Spielplan war geprägt von richtungsweisenden Schauspiel- und Tanzproduktionen aus der ganzen Welt, deutschsprachigen Theaterinszenierungen, einem Literaturprogramm, Produktionen des (inter)nationalen Neuen Zirkus und des Kinder- und Jugendtheaters. Performative Arbeiten, die jährliche Ausstellung in der Kunsthalle sowie Diskursformate und Musik und Kabarett ergänzten das Programm.

In Zeiten von Krieg und Krisen ging es Festspielintendant Olaf Kröck und seinem Team in diesem Jahr in besonderem Maße auch darum, Gemeinschaft/en zu stärken, Vergnügen zuzulassen, ohne einen möglichen Verlust aus dem Blick zu verlieren.
Olaf Kröck: „Solidarität, Neugierde, Wertschätzung, Empowerment, Begeisterung und Gemeinschaft – all diese Begriffe fallen mir ein, wenn ich an die diesjährigen Ruhrfestspiele denke. Angesichts der bedrückenden weltpolitischen Lage macht es Hoffnung, dass wir auch in diesem Jahr große Themen auf unseren Bühnen verhandeln konnten. Der überwältigende Publikumszuspruch zeigt die verbindende Kraft, die das Theater immer noch hat. Das ermutigt uns, die Ruhrfestspiele weiterhin über starke Inhalte zu denken, uns auch brisanten Themenfeldern zu stellen und die Recklinghäuser Festspiele auch in Zukunft konsequent international zu verorten.”

Das Festivalmotto wurde in zahlreichen Produktionen im Festival sichtbar, so bereits am Eröffnungsabend: Erstmalig eröffneten die Ruhrfestspiele mit einer Produktion des Neuen Zirkus. Die australische Kompanie Gravity & Other Myths unter der künstlerischen Leitung von Darcy Grant zeigte als Deutschlandpremiere ihre international gefeierte Inszenierung „The Pulse“ (in fünf ausverkauften Shows), in der neben den Akrobat*innen der Kompanie der Frauenkonzertchor der Chorakademie Dortmund auf der Bühne stand. Zusätzlich zum Publikum vor Ort erreichte die Inszenierung über ein (Live)Streaming auf arte.tv auf digitalem Weg ein weites Publikum über Deutschland und Europa hinaus. Die literarische Eröffnungsrede hielt die zuletzt mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky. Ihre Rede war – angelehnt an das Zirkusmotiv – ein Plädoyer für Gemeinschaft, für die kollektive Erinnerung, für die Wichtigkeit gemeinsamer Erlebnisse im öffentlichen Raum als Bedingung der Möglichkeit von Gerechtigkeit und Solidarität.

Im Schauspiel eröffneten die Ruhrfestspiele ebenfalls mit einer internationalen Arbeit: Der portugiesische Regisseur Tiago Rodrigues, Künstlerischer Leiter des Festival d’Avignon und einer der aktuell bedeutenden Theatermacher Europas, kam mit seiner Inszenierung „As Far As Impossible“ (Deutschlandpremiere). Der kluge, behutsam komponierte Abend konfrontierte mit der erschütternden Realität humanitärer Helfer*innen. Die mehrsprachige Aufführung mit durchdringender Livemusik erkundete die Dilemmata derjenigen, die zwischen Krisengebieten und ihrem eigenen friedlichen Zuhause pendeln.

Die Kunstaustellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen präsentierte zum Start der Festivalsaison die erste Einzelausstellung von Søren Aagaard in Deutschland. Der dänische Künstler befragt in seiner Arbeit das performative Potenzial von Essen und Kunst, zugrunde liegt dabei immer auch die Betonung des demokratischen Aspekts von Essen und Fragen von Nachhaltigkeit bei der Produktion von Lebensmitteln.

Zwei politisch motivierte Inszenierungen kamen während des Festivals zur Uraufführung und waren von den Ruhrfestspielen koproduziert: „Hier spricht die Polizei“ von werkgruppe2 thematisierte die ambivalente Wahrnehmung der Institution Polizei. Das Stück entstand, auch mit Hilfe der Gewerkschaft der Polizei, aus zahlreichen Interviews. Der KULA Compagnie gelang mit ihrer neuen Produktion „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ in der Regie von Robert Schuster das in diesen Tagen scheinbar Unmögliche: im Angesicht des Krieges im Nahen Osten nicht zu verstummen, sondern im Gespräch und im Spiel zu bleiben. Die Aufführungen fanden mit anschließendem Publikumsgespräch statt, bei dem das Ensemble mit den Zuschauenden ins Gespräch kam.
Weitere (internationale) politisch motivierte Inszenierungen in diesem Jahr waren u. a. „Boy“ der belgischen Autorin und Regisseurin Carly Wijs, Laia RiCas „Kaffee mit Zucker?“, „La Codista“ der niederländischen, in Italien lebenden Schauspielerin und Autorin Marleen Scholten (Wunderbaum) und „Die Wut, die bleibt“ nach dem Roman von Mareike Fallwickl, inszeniert von Jorinde Dröse (Schauspiel Hannover).
In diesem Kontext zu nennen ist auch die Diskussionsveranstaltung „Partei ergreifen: Europa mit uns“. In Zusammenarbeit mit dem DGB und der Hans Böckler Stiftung kamen zwei Wochen vor der Europawahl mit vier Studierenden aus dem Programm der Stiftung auf dem Podium vor allem junge Menschen zu Wort und sprachen über Chancen und Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten der Gestaltung eines modernen Europas.

Großen Publikumszuspruch erhielt die Eigenproduktion der Ruhrfestspiele „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner, inszeniert von Kieran Joel. Und auch die Schauspielproduktionen großer deutscher Bühnen mit bekannten Spieler*innen fanden meist vor ausverkauftem Haus statt. Zu Gast waren unter anderem Wolfram Koch in „König Lear“ (Regie: Jan Bosse, Thalia Theater), Stefanie Reinsperger in „Der Theatermacher“ (Regie: Oliver Reese, Berliner Ensemble) und Dimitrij Schaad mit dem Soloabend „The Silence“ (Regie: Falk Richter, Schaubühne am Lehniner Platz). In Kooperation mit dem Deutschen Fußballmuseum präsentierten die Ruhrfestspiele zudem die Uraufführung des dokumentarischen Theaterstücks „Die Nacht von Sevilla. Fußballdrama in fünf Akten“ von Manuel Neukirchner mit Peter Lohmeyer und Toni Schumacher als multimediale Leseinszenierung, ebenfalls vor ausverkauftem Haus.

Im Tanz zeigten die Ruhrfestspiele in diesem Jahr u.a. „Dancing Grandmothers“ der südkoreanischen Tanzkoryphäe Eun-Me Ahn. Die Choreografin machte das Thema Gemeinschaft auf besondere Weise erlebbar und lud zum Ende der Vorstellung die Zuschauenden zum Mittanzen auf die Bühne. Als Deutschlandpremieren waren „Mass Effect“, choreografiert von Andreas Constantinou und „Rave Lucid“ von Brandon Masele und Laura Defretin im Tanzprogramm der diesjährigen Ruhrfestspiele. Zudem zu Gast war die italienische Choreografin Silvia Gribaudi mit ihrer ausgezeichneten Choreografie „Graces“.

Nach Herta Müller (2019) und Olga Tokarczuk (2023) war in diesem Jahr zum dritten Mal ein Literaturnobelpreisträger auf der Bühne der Ruhrfestspiele: Abdulrazak Gurnah. Im Gespräch mit Denis Scheck betonte er, dass es ihm beim Schreiben über Kolonialismus nicht um eine Schuldzuweisung geht, vielmehr treibt ihn eine Neugier auf Geschichten an, die Einblicke in die Menschlichkeit hinter den historischen Ereignissen geben. Zu Gast im Literaturprogramm waren zudem u. a. die Schauspieler*innen Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach und Lars Eidinger. Kuratiert von Sharon Dodua Otoo und Patricia Eckermann gab es in diesem Jahr eine große Ausgabe von „Resonanzen – Schwarzes Internationales Literaturfestival“ mit Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo als Eröffnungsrednerin. „Resonanzen“ ist dabei das erste mehrtägige Literaturfestival, das in einer Zusammenarbeit von Schwarzen Kulturschaffenden mit einer großen europäischen Kulturinstitution kuratiert wird. Dieses „Festival im Festival“ trägt auf innovative Weise dazu bei, Raum zu schaffen: für schöne Literatur, erhellende Diskussionen und Momente der Begegnung und wurde gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

Die Ruhrfestspiele danken allen beteiligten Künstler*innen und ihrem Publikum für sechs intensive Festivalwochen. Über 620 Künstler*innen aus der ganzen Welt waren mit ihren Produktionen und Vorstellungen Teil der diesjährigen Ruhrfestspiele. Der Spielplan enthielt rd. 80 Produktionen mit 180 Veranstaltungen, davon u. a. vier Uraufführungen und sechs Deutschlandpremieren.

Kurz vor Ende der diesjährigen Festspiele haben nach aktuellem Stand knapp 59.000 Besucher*innen die Vorstellungen der Ruhrfestspiele besucht, bei etwa 66.500 Karten im Verkauf, entspricht dies einer Auslastung von etwa 89 Prozent, nicht mitgerechnet rd. 65.000 Besucher*innen des Kulturvolksfestes am 1. Mai. Neben dem Recklinghäuser und regionalen Publikum kam das Publikum aus dem gesamten Bundesgebiet und aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland.



Zitate der Aufsichtsratsvorsitzenden der Ruhrfestspiele zum Abschluss der Ruhrfestspiele 2024

„Wir blicken auf eine spannende Festivalzeit zurück, die auf dem Hügel und an den anderen Spielstätten der Ruhrfestspiele mit mutigen und spektakulären Inszenierungen dem Publikum viele spannende, aufwühlende und berührende Momente beschert hat. Intendant Olaf Kröck und sein Team haben gezeigt, wie vielfältig die Kultur sein kann und mit ihrer bunten Mischung aus Theater, Tanz, Kabarett, Lesungen, Musik und Zirkus wieder den Nerv der Besucherinnen und Besucher getroffen. Wie ich aus vielen persönlichen Gesprächen weiß, hat das Publikum honoriert, dass die Ruhrfestspiele auch in diesem Jahr dank eines ambitionierten Programms wieder ihrem Anspruch gerecht geworden sind, ganz offensiv für Solidarität, Demokratie und Frieden einzutreten. Das ist in den schwierigen Zeiten, die wir gerade erleben, nötiger denn je.“
Christoph Tesche, 1. Aufsichtsratsvorsitzender der Ruhrfestspiele und Bürgermeister der Stadt Recklinghausen

„Auch in diesem Jahr haben die Ruhrfestspiele mitgerissen und Mut gemacht, Demokratie, Solidarität und Gerechtigkeit gemeinsam zu verteidigen. Wieder hat das Festival seiner Gründungsgeschichte alle Ehre gemacht. Die Ruhrfestspiele stehen schließlich seit jeher für Solidarität, für den Tausch ‚Kohle für Kunst – Kunst für Kohle‘: Die Aufführungen Hamburger Theaterleute waren der Dank für die Solidarität der Recklinghäuser Bergleute, die im Winter zuvor Kohle zum Heizen der Theater an die Elbe geschickt hatten. Dieser Geist von Miteinander, Neugier und gegenseitigem Respekt war auch in diesem Jahr wieder zu spüren. In einem unglaublich vielfältigen und couragierten Programm haben sich Künstler*innen und Publikum mit politisch aktuellen und zum Teil schmerzhaften Themen auseinandergesetzt. Dabei entstehen neue Perspektiven und Lösungsansätze. Das klare Zeichen gegen Demokratiefeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus, das von den Ruhrfestspielen 2024 ausging, brauchen wir mehr denn je in krisenhaften, unsicheren Zeiten, in denen unsere Gesellschaft auseinanderdriftet.“
Stefan Körzell, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Ruhrfestspiele und Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes



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